China und Indien – Ursachen von Verfolgung oder Koëxistenz
China und Indiën, die beiden volksreichsten Länder der Erde mit über einer Milliarde Einwohner, sind Nachbarn, in kultureller Hinsicht jedoch Gegenpole. Beide entstanden aus uralten Kulturregionen, die sich in gegensätzlicher Weise entwickelt haben.
China hatte seit alters her Kaiser, die wie ein Pharao über das Land regierten und regelten, was der alten Vorstellung von asiatischer Despotie entspricht, sich bei und nach der kommunistischen Revolution, später in der Kulturrevolution von 1968 und jüngst der wirtschaftlichen Öffnung mit anderen Mitteln und Machtsystemen fortsetzte. Die chinesische Gesellschaft ist eine Massengesellschaft.
Die japanische fußt auf geschmacklichen Normen, die sogar bei rebellischen Jugendlichen sichtbar sind, die gegen Normen rebellieren, dies aber in ihrerseits genormten Protestsignalen ausdrücken.So ähnelten sich japanische ‚Freaks’, die ‚alternative Individualität’ ausdrückten, als hätten sie alle im gleichen Supermarkt für Protest-Individualismus Aufmachung von der Stange eingekauft. Nun mag es bei uns ähnliche Tendenzen geben, doch in Japan prägen sie sichtlich.
Indiën ist das Gegenteil. Nicht nur die chinesische Kultur ist alt, besonders auch die Götter der Induskultur, die bereits vor Ankunft der Aria bestand, aus denen der geistliche Stand der Brahmanen entstand, entsprechend dem vorchristlichen Stand der Drudner oder Druiden, der bei Annahme des Christentums durch den mittelalterlichen zweiten Stand kirchlicher Geistlicher ersetzt wurde. Man hat im Industal aus vorvedischer Zeit Götterbildnisse gefunden, die von Indern noch heute als ihr Gott Schiwa oder ihre Göttin Kali oder Durga erkannt werden. Die Veden (Einzahl: Veda) entsprechen dabei der Edda der Germanen, sowohl in der Bedeutung, als vermutlich auch im Wortstamm. Schiwa trägt die Mondsichel im Haar und reitet auf Nandi, dem Stier, dessen Hörner zusammen mit dem Mond als Zeichen bereits in der Altsteinzeit in Afrika, Europa, Klein- und Westasiën als zusammengehörige geistliche Attribute verbreitet waren. So alte Wurzeln hat diese Gottheit.
Heute ist die indische Gesellschaft in eine Vielzahl Kasten zersplittert, die sich aus ursprünglich vier Farben, diese wiederum aus den drei Ständen entwickelt hatten, die indoeuropäische Kultur ursprünglich kennzeichnete. Den geistlichen Stand der Druiden oder Drudner gab es offenbar bei Kelten und Germanen; dieser entspricht den Brahmanen Indiëns. Hervorgegangen sind die Vielzahl der Kasten und die Strenge der Regeln, die das Kastenwesen betreffen, aus einer fehlgeschlagenen Revolution gegen das Kastensystem, die das genaue Gegenteil der beabsichtigten Wirkung hatte. (Dem Feminismus könnte es ähnlich ergehen, wenn natürliche Geschlechterergänzung wiederaufgebaut wird.)
Ungefähr 500 Jahre vor unsrer Zeitenwende gab es zwei Lehrmeister in Indiën, die sich gegen den damaligen Hinduismus stellten: Mahavira (Jainismus) und Buddha (Buddhismus). Jain haben sich als eine der vielen Religionen Indiëns erhalten, besetzten im Kastensystem unter anderem die Funktion des Geldverleihers, weshalb ihnen der Ruf nachgeht, wohlhabend zu sein. Buddha wollte das Kastensystem abschaffen. Wie ich im Buch von Reisenden las, die in den 1920er Jahren Tibet bereisten, gab es auch in Tibet Klassenunterschiede. Söhne wohlhabender Bürger erhielten Geld von zu Hause, wenn sie ins Kloster gingen, konnten sich ganz auf ihre Studiën konzentrieren und daher bei Begabung und Fleiß auch leicht zum Lama aufsteigen. Dagegen war es mit ihren Viehherden auf einigen tausend Metern Höhe umherziehenden Nomaden nicht möglich, ihre Söhne im Kloster zu unterstützen, weshalb sich diese als Diener verdingen mußten, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Daher hatten sie kaum je genug Muße und Konzentration, um es bis zum hochgelehrten Lama zu schaffen.
Doch die Wirkung der buddhistischen Herrschaft in Indiën war weit fataler. Ein Maharadscha hatte sich nach vielen blutigen Grausamkeiten aus Angst um sein Seelenheil und Karma bekehrt, und zwar zum Buddhismus, weil dieser als besonders friedfertig galt, womit er wohl seine vormals bösen Taten ausgleichen wollte. Danach herrschten eine Weile buddhistische Radschas über Indiën; hinduistische Priester waren am Hofe durch Buddhisten ersetzt worden. Die alten königlichen Rituale wurden nicht mehr ausgeführt.
Der alte Glaube lebte nur abseits königlicher Paläste und Residenzen fort: Zum einen im Volk, zum anderen bei den Brahmanen, deren Existenzgrund im hinduistischen Glauben lag, den sie deshalb nicht aufgeben wollten. Ähnliches passierte später, als Muslime die Macht eroberten. In Kaschmir bekehrten sie so ziemlich alle Einwohner niedriger Kasten zum Islam; nur die Brahmanen und Hochkastigen, die gebildet und gelehrt waren im Hinduismus und in diesem ihren Existenzgrund sahen, blieben ihrem Glauben treu.
Dabei wandelte sich der Hinduismus, der in seiner ursprünglichen Form nur auf Bali überlebt hat, wo das Kastensystem schwach ausgeprägt ist, die vier Hauptkasten hat, die aber durchlässiger sind, wie mir Balinesen berichteten. Wer eine Beruf erlerne, etwa an der Universität studiere, werde von der zum Beruf gehörenden Kaste aufgrund seiner Fähigkeiten aufgenommen. Auch Heiraten mit anderen Kasten seien dort kein Problem, weil die Frau in die Kaste aufgenommen werde. So die balinesische Selbstdarstellung.
In Indiën ist die Kaste unveränderbar; man wird in sie geboren. Ebenso kann sich niemand wirklich zum Hinduismus bekehren, weil man auch als Hindu geboren wird – in seine Kaste. Daher werden Jünger der Hare-Krischna-Sekte westlicher Länder nicht ganz ernstgenommen und wirken so seltsam wie ein Asiat, der bei uns mittelalterliche Riten in Mittelhochdeutsch abhält, denn die religiösen Riten der Sekte werden in Indiën selbst schon lange nicht mehr ausgeübt.
Die Brahmanen erließen, um den Hinduismus zu retten, in der Zeit buddhistischer (und vielleicht später auch muslimischer) Fremdherrschaft immer strengere Gesetze, die das Kastenwesen betrafen, um ein Wegbrechen zu verhindern, das derzeit in Europa durch die Millionenflut von Migranten geschieht und uns auszulöschen droht. Deshalb wurden Heiratsregeln und soziale Regeln immer strenger. Das Kastensystem wurde rigide, drückend, unmenschlich – der Lehrmeister Buddha hatte das radikale Gegenteil dessen bewirkt, was er bezweckt hatte. Wie in Dichtung und Politik gilt auch bei der Umgestaltung von Gesellschaft „Gut gewollt ist schlecht gekonnt”; zum Glück sind Buddhisten friedlich und werden mich nicht der Blasphemie anklagen, sondern es mit Humor und Witz nehmen, was für ihre Weisheit spricht.
Noch eine andere Verschiebung gab es: Die Triade vedischer Götter, die den germanischen, keltischen und slawischen Göttern glichen und von derselben Wurzel abstammten (darunter Donar – Indra), wurde ersetzt durch Götter des alten Volksglaubens, die zuvor keine Rolle in der vedischen Kultur gespielt hatten: So stiegen die uralten Götter vorvedischer, vorarischer Zeit wie Schiwa, Durga und Kali zu wichtigen Göttern auf. Erst seitdem sind Brahma, Wischnu und Schiwa die drei Hauptgötter.
Indiën ist ein Land mit einer Vielzahl Sprachen – einst wurden 6000 genannt, vieler Stämme und Hauptsprachen. In einem Sprachkreis gibt es viele Kasten, die ursprünglich innerhalb heirateten. Damit ist die indische Kultur ein extremes Gegenstück zur einheitlichen, geradezu ‚absolutistischen’ und einschmelzenden Staatskultur Chinas.
China hat eine Besonderheit: Es gibt dort, von örtlichem Volksglauben abgesehen, keine wirklich großen, mächtigen Götter. In China hat sehr früh Philosophie, wenn nicht Staatsphilosophie, die Religion verdrängt. Konfuzius, Lao Tse und andere Philosophen und ihre Lehren nehmen daher in etwa die Rolle ein, die anderswo Götter und Glaubenslehren hatten. Diese in China wohl seit Jahrtausenden beobachtete Entwicklung fand bei uns erst ab dem Ende des Mittelalters statt. Indiën ist das genaue Gegenteil, ein Land starker religiöser Überlieferung und Riten, tausender Götter und Lehren, die das Leben prägen. Buddhismus ging in chinesische Richtung, denn diese ‚Religion’ wird als Lehre oder Weg aufgefaßt, hat einen Lehrmeister – Buddha – statt eines Gottes; Götter sind eher lokale Beigaben, die zur buddhistischen Lehre Bekehrte aus alter Gewohnheit einbrachten. Der Artikel „Chinas Götter und Göttinnen” einer offiziëll klingenden Domäne „Unsere Nation China” listet zwei Gruppen chinesischer sogenannter ‚Götter’ auf: die erste sind Formen des Buddhas, die zweite Götter des Taoismus, der wie der Buddhismus eine Philosophie darstellt. Somit gleichen sich Buddhismus und chinesische Staatsphilosophie darin, daß die Lehre keine zentralen Götter kennt, sondern Lehrmeister, wirkliche Menschen, ergänzt um einige mythische Personen oder untergeordnete örtliche Götter, die einer im Kern philosophischen Lehre dienen und letztlich verzichtbar sind.
China ist ein die Massen vereinheitlichender Staat, der Unterschiede einschmilzt, einstige ethnische Vielfalt im Kernland durch Han-Chinesen ersetzt hat; Indiën ist ein Vielsprachen-, Vielvölkerstaat mit vielen örtlichen Kulturen und Stammeskulturen, deren einigende Bänder Hinduismus und Kastensystem sind. Anders als in Bekehrungsreligionen, wie es Monotheismen meist sind, wurden durch hinduistische Kultur aufgesogene Stämme niemals von ihren Gottheiten und Riten abgebracht. Man sah sich die Götter an, fand Ähnlichkeiten, und erklärte die Stammesgötter zu Wiedergeburten der großen, universellen hinduistischen Hauptgötter. So kommt es, daß manch ein Gott hundert Namen trägt, vielleicht sogar noch mehr. Alte Religionen, Götter und Kulturen gingen nicht unter, sondern ein in die Vielfalt Indiëns – aber nicht als zusammenhangslos nebeneinander oder gar gegeneinander lebende Gruppen, sondern indem sie einbezogen wurden in den hinduistischen Kosmos, soziale Gruppen und Arbeitsteilung des Kastensystems vormoderner Zeit.
Man könnte Indiën bei flüchtiger Betrachtung für den Traum eines Multikulti-Musterlandes halten, doch das stimmt nicht. Die Vielzahl der Götter bedeuten keine Beliebigkeit, sondern sind alle Teil einer sehr stark strukturierten Gesellschaft mit verbindlichen, überindividuëllen Werten. Soziale und sexuëlle Regeln sind wesentlich stärker und bindender, als sie im Abendland jemals waren. Die Vielfalt fliegt ihnen deshalb nicht um die Ohren, weil die gemeinsamen spirituëllen, gesellschaftlichen und sozialen Lebensformen alle umfassen, Gruppen innerhalb heirateten und früher in einem arbeitsteiligen Tausch standen. Theoretisch blieben also alle unter sich, über Jahrhunderte oder sogar Jahrtausende. Deswegen störten sie sich gegenseitig nicht, im Gegensatz zur überwiegend männlichen Einwanderung im Abendland, die biologisch Frauenraub bedeutet.
Das Kastensystem Indiëns war einst ein Echo geschlechtlicher Arbeitsteilung, die wohlgemerkt nur bei den Geschlechtern natürlich ist, auf Kasten bezogen dagegen einschränkender Zwang. Denn was Mann oder Frau tun, das teilten sie miteinander, der ganzen Familië, weil Mann und Frau durch Ehe verbunden waren. Kasten sind nun das glatte Gegenteil einer Ehe, weil nach alter Regel nur innerhalb von Kasten geheiratet wurde, verschiedene Kasten gerade keine eheliche Beziehung aufnahmen. Daher gleicht geschlechtliche Arbeitsteilung aus, wogegen die zwischen Kasten soziale Unterschiede hervorbringt.
Die Vorfahren der Brahmanen und der keltischen, germanischen und slawischen Stämme des Nordens haben sich vor 5000 bis 7000 Jahren getrennt. Hätte es keine Mischehen gegeben, sähen die Brahmanen noch heute aus wie unsere germanischen Vorfahren: blond und oft blauäugig. Dem ist nicht so; zwar sind Gesichter Nordindiëns bis auf Hautfarbe zuweilen ähnlich, doch lassen sich Brahmanen körperlich nicht von anderen unterscheiden. In den ersten Jahrtausenden werden sie sich oft genug gemischt haben, bevor strengere Regeln eingeführt wurden, die seitdem die indische Gesellschaft bis vor kurzem prägten.
Eine Ironie der Geschichte stellen die Parsen da, benannt nach ihrer Urheimat Persiën, die nach der islamischen Eroberung Irans nach Indiën flohen, um bei ihrem zoroastrischen Glauben zu bleiben. Ursprünglich waren die Perser hinduistisch; ihr alter Götterkanon und ihre religiöse Überlieferung unterschied sich kaum von der Indiëns mit allenfalls örtlichen Varianten, wie es sie immer und überall gibt. Als der frühe Monotheïsmus des Glaubensstifters Zarathustra eingeführt wurde, endete eine Ära religiöser Toleranz. Auf Inschriften hatte ein Perserkönig sich gerühmt, auch ihm fremde Götter seiner eroberten Länder gefördert und den Juden Geld gegeben zu haben, damit sie ihren zerstörten Tempel wiederaufbauen konnten. Er wollte sich mit allen Göttern gutstellen. Später brüstete sich ein zoroastrischer Glaubenseiferer in einer Inschrift, die Nazarener (Christen), Juden und Brahminen (Hindu) verfolgt, getötet oder verjagt, und ihre Tempel zerstört zu haben. Als die Zoroaster von Muslimen besiegt worden waren, blieb den Seßhaften nur die Wahl zwischen Konversion zum Islam und Flucht, wobei die Glaubensfesten ausgerechnet zu den von ihnen früher verfolgten Hindus nach Indiën flohen, wo sie als eine der vielen Kasten und Religionen bis heute unbehelligt überdauerten. Ihre heute zu geringe Geburtenrate läßt sie schwinden. Nur ein umherziehender Nomadenstamm soll im Iran bis heute Elemente zoroastrischen Glauben bewahrt haben.
Interessant sind die Extrembeispiele China und Indiën auch in Hinsicht auf religiöse Toleranz. In China haben Juden ihren Glauben abgelegt, sogar vergessen, daß sie Juden gewesen waren, weil sie assimiliert und eingeschmolzen wurden von der starken Einheitsgesellschaft Chinas. Das soll in keinem anderen Kulturkreis der Erde geschehen sein. Das ‚absolutistische Kaiserreich’ und die einschmelzende Umarmung der chinesischen Gesellschaft hat Juden nie verfolgt, sie aber aufgesogen. Besucher aus Israël meldeten später, sie hätten Menschen gefunden, die sie aufgrund ihrer Speisegewohnheiten und Essensregeln als Nachkommen von Juden erkannt hätten. Und siehe da, in jener Gegend war in früheren Zeiten die Anwesenheit von Juden dokumentiert. Sie hatten ihre Herkunft vergessen, sich gemischt, waren unerkennbar; als letztes waren jüdische Speisegewohnheiten verblieben.
Das Gegenteil dazu stellt die stark in Kasten gegliederte Gesellschaft Indiëns mit einer Vielzahl Göttern da. Bei so vielen Kasten kommt es auf eine mehr nicht an; gleiches gilt für Götter. Gäbe es nicht in den drei heutigen monotheïstischen Religionen das erste biblische Gebot, keinen anderen Gott zu haben als den einen, wären Juden wohl, genau wie Mohammedaner und Christen, auf die indische Weise assimiliert worden, indem man den Gott der Thora, Bibel oder des Korans zu einer Reïnkarnation ihres hinduistischen Götterkanons erklärt hätte. Das ging jedoch bei diesen Glaubensformen offensichtlich nicht. Trotzdem sollen Juden seit babylonischer Zeit in Indiën gewesen sein, ohne daß sie jemals verfolgt worden wären. Die indische Gesellschaft ist ähnlich stark wie die chinesische, wenngleich aus umgekehrten Gründen: Statt einer vereinheitlichenden Massengesellschaft, die stärker nivelliert und assimiliert als andere wie in China, ist in Indiën die Vielzahl von Gruppen starkes Bindeglied, weil alle Gruppen ineinander heiraten, die Kultur und das Bestehen der ethnischen Identität anderer in keiner Weise in Frage stellen – und das über Jahrtausende. Starke kulturelle und sexuëlle Regeln gelten für alle. Wer sich seiner selbst sicher ist, von anderen nichts zu befürchten hat, braucht auch keine Abwehrreaktionen. So kommt es, daß im höchst zersplitterten und Gruppen langfristig erhaltenden Indiën ebenso wie im vereinheitlichenden und einschmelzenden China Juden nicht verfolgt wurden. In Indiën hielten sich ihre Gemeinden bis zur Gründung des Staates Israël, worauf fast alle dorthin auswanderten.
Dennoch gibt es in Indiën religiöse Probleme, hauptsächlich durch Mohammedaner, ähnlich wie in China, weil diese bekehren und Parallelgesellschaften bilden, die sich nicht in die Kultur des Wirtsvolkes einfügen, ja sogar aussteigen, denn fast alle Muslime Indiëns, Pakistans und Bangla Deschs sind Nachkommen von Konvertiten, die vorher im Hinduglauben aufgewachsen waren. Daher ist ihre Alltagskultur noch stark hinduistisch geprägt. Die Bekehrung führt über Generationen hinweg zu einer fortschreitenden Desintegration derer, die ursprünglich autochthone hinduistische Inder gewesen sind. In Ostturkestan, heute Provinz Chinas, die zu Zeiten Sven Hedins und Mühlenwegs noch ‚Sinkiang’ genannt wurde, grassiert heute islamistischer Terrorismus im Umfeld von al Quaida und Islamischer Staat. China reagiert in einer Weise, wie es weltweit anderswo undenkbar wäre: Sie behandeln den Glauben als Störung und wollen ihn aberziehen. Für Abendländer klingt diese Idee frevelhaft; kein Mensch mit Verstand möchte sich mit den ungeheuerlichen Kräften einer großen Religion anlegen, und wenn diese nur darin bestehen, daß die Gläubigen aufgrund ihrer tiefen Überzeugung ihr Leben einsetzen und in der Masse eine gewaltige, schier unüberwindbare Kraft entfalten. Wohl nur Chinesen, die seit Jahrtausenden Religion durch Philosophie ersetzt haben, kann eine solche Idee kommen. Wie es ausgeht, bleibt abzuwarten. Hier treffen zwei der stärksten menschlichen Gegenkräfte aufeinander.
Im hinduistischen Subkontinent gibt es Spannungen mit Muslimen, was sich bis zu Ausbrüchen von Verfolgungen hochgeschaukelt hat und dem Bild des toleranten Indiëns zu widersprechen scheint. Nun, keine Gesellschaft ist tolerant, wenn es an ihre Existenz geht. Die Frage ist eher, welche Gesellschaft sich gefährdet sieht durch Integrationsverweigerer und welche nicht. Die chinesische ist wenig gefährdet, weil ihre Assimilationskraft so überwältigend stark ist, daß sie sogar die Juden bis zum Vergessen ihrer Herkunft assimilierten, was weltweit einmalig ist. Doch wenn sie in Ostturkestan, heute Sinkiang, von Terror herausgefordert werden, gibt es wohl so etwas wie Verfolgung oder Umerziehung. Die indische Gesellschaft ist wenig gefährdet, weil keine der Kasten bedroht ist in ihrem Fortbestand – genauer: solange sie es nicht sind. Die Desintegration von Muslimen ist bereits abträglich, doch brisant wird es durch Bekehrungen: Weil das unter buddhistischer und muslimischer Fremdherrschaft rigide geworden Kastensystem für Niederkastige und Kastenlose, ‚Unberührbare’ erniedrigend ist, gibt es trotz aller Bemühungen der Regierung, ihr Dasein zu bessern und sie mit vielen Vorteilen vor anderen zu fördern, einen großen Druck, den Fremdreligionen zur Bekehrung benutzen: „Seht, ihr seid Außenseiter, werdet von Hindus erniedrigt. Bei uns Muslimen – oder Christen – gibt es keine Kasten, seid ihr voll anerkannt.”
Daher haben sich viele Niederkastige und Kastenlose konvertiert, einige wenige zu Buddhisten, die meisten zu Mohammedanern, einige zu Christen, den sogenannten Dalit-Christen. Auch mit diesen gibt es Probleme, wenngleich weniger als mit Muslimen. Nicht nur Mohammedaner, sondern auch Christen werden daher zuweilen von fanatischen Hindus verfolgt, die damit auf die Verdrängung durch Bekehrung antworten. Denn sie werden in ihrer Existenz bedroht. Das ist logischerweise die Folge davon, daß sich niemand zum Hinduismus bekehren kann, weil man als Hindu geboren sein muß, wohl aber Hindus sich teils massenweise zu anderen Religionen bekehren lassen, eine stetig fortschreitende Verdrängung des Hinduismus, die irgendwann im Erlöschen der Religion und Kultur enden würde, wenn es so weiterginge. Das ist der rationale Kern für solch häßliche Erscheinungen wie Verfolgungen. Von diesen sind jedoch vor allem Muslime, in geringerem Maße Christen, jedoch keine Juden betroffen. Weshalb? Juden bekehren nicht. Muslime und Christen bekehren, besonders erfolgreich in den niederen Kasten, wobei Mohammedaner jedoch eine über Generationen fortschreitende Desintegration und Radikalisierung von anfangs toleranten Glaubensformen hin zu glaubenseifernden durchmachen, die mir von Christen nicht bekannt ist. Hier erklärt also das Verhalten der jeweiligen Glaubensgemeinschaften ihre Behandlung in Indiën und China. Bei Integrationsverweigerung kann über Jahrhunderte einiges schiefgehen, was für jede Gesellschaft gelten dürfte; eine Ausnahme ist eine so stark geregelte und in Gruppen zerfallende wie die indische, wo das Nebeneinander verschiedener Kasten und Religionen an sich kein Problem ist, solange Gleichgewicht und Spielregeln der Gesamtgesellschaft nicht erschüttert werden.
Wer über Einwanderung und Integration nachdenkt, sollte beide Gegenpole kennen, China wie Indiën. Sie sind ein gutes Studiënobjekt, das zwei gegensätzliche Prinzipiën wie in einem großen Feldversuch des menschlichen Geistes vorführt.
Dies war ein Auszug aus einem künftigen Bildband über China und Indien.
neue Kommentare